Tonraum-Deformationen durch Instrumentalklang-Verstimmungen bei Olga Neuwirth
von Stefan Drees [1]
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"Ich benötige eine Oberfläche, von der ich den Eindruck habe, dass es sich lohnt, sie zu bemalen, darum muß ich sie selbst herstellen." (Frank Stella) |
Die Musik der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth zeichnet sich durch eine verblüffende Vielgestaltigkeit aus. Ihre sanften, aber auch aggressiven Klänge packen den Zuhörer, lassen ihn nicht mehr los und können aufgrund ihrer Beschaffenheit auch eine stark verunsichernde Wirkung ausüben. Dies hängt zum einen mit den ausgeklügelten Präparationen zusammen, deren sich Olga Neuwirth immer wieder bedient, um den herkömmlichen Instrumentalklang seiner quasi akademischen und konventionellen Hülle zu entkleiden; zum anderen ist es aber auch eine Folge des spezifischen Umgangs mit bestimmten Elementen der Harmonik, durch die eine komplexe Überlagerung von Klang- und Geräuschwertigkeiten entsteht. Am Beispiel der Komposition "Hooloomooloo" für Ensemble und Zuspiel-CD (1996/97) sollen im Folgenden die kompositorischen Ursachen für die Entstehung solcher Wirkungen, aber auch deren dichte gegenseitige Vernetzung skizziert werden.
I.
"Hooloomooloo", uraufgeführt 1997 bei der Musik-Biennale Berlin durch das Ensemble Modern unter Leitung von Jonathan Nott, ist Signum für Olga Neuwirths waches Interesse an den Entwicklungen in anderen künstlerischen Disziplinen - in diesem konkreten Fall für ihre Auseinandersetzungen mit Wirkungen der Bildenden Kunst. Benannt ist die Komposition nach einem Triptychon des Amerikaners Frank Stella, einem Werk aus der Serie "Imaginery Places", das aus drei ineinander übergehenden, reliefartigen Tafelbildern von ähnlicher Größe und Farbgebung, aber mit leicht unterschiedlich strukturierter Oberfläche besteht (vgl. Abbildung 1). Es ist insbesondere Stellas ambivalentes Spiel mit den Polaritäten Räumlichkeit-Fläche und Vordergrund-Hintergrund - ein Verfahren, das zwar die Existenz eines Innenraums andeutet, diesen aber nicht wirklich eröffnet - das sich in der Musik wiederfindet. Allerdings hat die Komponisten das Kunstobjekt nicht einfach in Klänge übersetzt; sie hat sich vielmehr von seiner Erscheinung zur raffinierten Entfaltung einer Klangwelt inspirieren lassen, die mit ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten die illusionistischen Prinzipien von Stellas Reliefbildern verarbeitet. Das Ensemblestück ist daher als äußerst differenzierte kompositorische Reaktion zu werten, in deren Verlauf - zwischen zart ausbalancierten Klängen und vehementen Ausbrüchen angesiedelt - die Mehrdeutigkeiten von Stellas Triptychon in einer Art musikalischer Mehrperspektivität thematisiert werden.
Abbildung 1: Mittelteil aus dem Triptychon "Hooloomooloo" von Frank Stella, 1994
Die Grundlagen dieser mehrperspektivischen Anlage sind eine räumliche Aufteilung des Ensembles sowie die Deformation eines zentralen Tonvorrats durch gezielt vorgeschriebene Verstimmungen und Präparationen. Olga Neuwirth teilt die Instrumentalisten in drei unterschiedlich besetzte Gruppen (Gruppe I: Violine 1, Violoncello 1, Flöte, Bassethorn, Trompete, Horn, Schlagwerk 1; Gruppe II: Viola, Kontrabass, Klavier mit CD-Player; Gruppe III: Violine 2, Violoncello 2, Klarinette, Bassklarinette, Posaune, Schlagwerk 2), die deutlich getrennt voneinander aufgestellt werden sollen. Die Trennung kann sowohl durch das Einhalten deutlicher Abstände auf der Bühne als auch mittels einer im Aufführungsraum verteilten Positionierung erfolgen (wobei Gruppe II auf jeden Fall auf der Bühne verbleibt);[2] sie ist wesentlich für die Verflechtung der musikalischen Prozesse, die dann als räumliche wahrgenommen werden.
Während sich diese Anweisungen auf die Verräumlichung der Musik auswirken, greift die Deformation bestimmter Tonraum-Regionen, die in jeder Gruppe auf andere Weise stattfindet, unmittelbar in das harmonische System der Komposition ein. Zunächst fordert Olga Neuwirth in den Streichern eine die Töne d' und d betreffende mikrotonale Veränderung der Saitenstimmung: Violine und Violoncello aus Gruppe I stimmen die entsprechenden Saiten um ca. 60 Cent (also ein wenig mehr als einen Viertelton), herunter, Violine und Violoncello aus Gruppe III dagegen um den selben Wert hinauf. Die Viola aus Gruppe II spannt neben ihrer normalen eine zweite D-Saite an Stelle der A-Saite auf, die ebenfalls um 60 Cent nach unten gestimmt wird. Unschärfen sind hier vorprogrammiert, fordert die Komponistin doch eindeutig, dass diese Saite während des Spielens nicht nachgestimmt werden soll. Daneben wird die G-Saite der Viola durch eine zweite C-Saite ersetzt und auf cis gestimmt. Diese Skordaturen (Notenbeispiel 1) stellen einen Eingriff in die natürlichen Obertonverhältnisse der beteiligten Streichinstrumente dar.
Während die leeren Saiten der Streicher in den Gruppen I und III einen Tonraum abstecken, der vom C bis zum e'' reicht, beschränkt sich die Viola darauf, die ungefähre Mitte desselben zu markieren. Dennoch erweitert Olga Neuwirth auch in Gruppe II den gesamten künstlich veränderten Tonraum bis an seine äußeren Grenzen C und e'', indem sie für das Klavier exakte Präparationen vorschreibt. Diese beziehen sich einerseits auf das Herausfiltern einzelner Teiltöne aus dem Obertonspektrum bestimmter Klaviersaiten, das durch den Einsatz von Silikonbällchen erreicht wird; andererseits werden bestimmte Tonhöhen unter Zuhilfenahme von Schaumgummi gezielt präpariert und damit durch Geräuschspektren erweitert (Notenbeispiel 2). So ist also bereits in der Anordnung des Materials eine Deformation des Tonraumes vorgesehen, bei der einzelne Töne durch mikrointervallische Abweichungen, Geräuschkomponenten oder Obertöne ersetzt werden; in allen drei Ensemblegruppen bezieht sie sich auf den durch die leeren Streichersaiten begrenzten Tonraum, ist aber im Einzelnen auf jeweils andere Elemente desselben gerichtet, so dass sich hier eine dreifache Ausleuchtung dieses Materialreservoires ergibt.
II.
Unterschiedliche Differenzierungsprozesse, die an der Struktur des Ausgangsmaterial ansetzen: dies ist die Strategie, die sich Olga Neuwirths Komposition mit Frank Stellas Triptychon teilt. Den erläuterten Manipulationen des Tonraumes steht in "Hooloomooloo" eine mehrperspektivische kompositorische Behandlung desselben gegenüber, die mit der formalen Entwicklung der Komposition verschränkt ist. Die unterschiedlichen Abweichungsgrade von den temperierten Tonhöhen, die sich auf Grund von Skordaturen und Präparationen, durch das Herausfiltern von Teiltönen sowie mittels Deformierung der Obertonspektren auf Grund von Geräuschanteilen ergeben, spielen auch im Verlauf der Komposition eine wesentliche Rolle. Wie ein roher Tonklumpen wird die Materialgrundlage permanent klanglich bearbeitet, umgestaltet, verändert und kompositorisch ausgeleuchtet, wozu Olga Neuwirth unterschiedliche Texturen und Satztypen sowie deren variable Strukturierung durch Geräuschspektren verwendet.
Ausgangspunkt von "Hooloomooloo" ist ein gedehnter Sinuston, der durch Einwirkung eines e-bow auf die Klavierseite d' entsteht.[3] Von ihm aus wird eine tonräumliche Zelle erschlossen, welche die benachbarten Tonstufen bzw. deren mikrotonale Derivate umfasst. Zunächst vermischt sich die artifizielle Tonqualität des d' mit dem ebenfalls obertonlosen, erniedrigten es' eines Ondes Martenot, das von der Zuspiel-CD erklingt. Die gesamte Einspielung enthält ausschließlich diese Tonhöhe, die über die Dauer der Komposition hinweg allmählich ihre Klangfarbe verändert und die verschiedenen Register des Klangraums durchschreitet, um am Ende wieder zum obertonlosen es' zurück zu kehren; sie dient so als kompositorischer Bezugspunkt oder - im Zusammenklang mit dem d' - als Grundfläche, auf der, analog zum Verfahren Stellas, die eigentlichen Elemente der Gestaltung platziert werden. Zu diesem Intervall tritt - kurzzeitig und durch Geräuschklänge anderer Instrumente wie Slaps und Schlaggeräusche verzerrt - die Tonhöhe cis (erstmals Violine III, T. 6) hinzu. Die Vervollständigung dieser Zelle wirkt als Auslöser für eine schlagartige Erweiterung des erschlossenen Tonraums auf mehrere Oktavlagen, während der einzelne Register mit lebhaften Figurationen ausgefüllt werden, die jedoch rasch zum Stillstand kommen und wieder in der initialen Zelle cis-d-es zusammenfallen (T. 11/12).
Die hier beschriebene Passage mag als einfaches Modell für die von Olga Neuwirth realisierten musikalischen Vorgänge dienen: Zum einen zeigt sie exemplarisch, auf welche Weise der Tonraum zum Gegenstand kompositorischer Auseinandersetzung gemacht wird. Zum anderen deutet sie aber auch auf die narrativen Strukturen der Musik hin: Zwar bewegen sich die auskomponierten Klangsituationen in bestimmte Richtungen, da den einzelnen musikalischen Partikeln ein bestimmter Rahmen zugewiesen wird, innerhalb dessen sie sich frei entfalten können; weil diese Entfaltungsprozesse jedoch von der Komponistin als Resultat eines in Wellen auftretenden Wucherns angelegt werden, das durch bestimmte Anfangsimpulse angeregt wird, bleibt ihr Ziel letztlich unvorhersehbar. Sie können bis zur Erschöpfung des Materials auslaufen oder durch abrupte Schnitte im formalen Gefüge der Partitur einfach beendet werden. Immer jedoch münden sie dabei in einen der initialen Zelle ähnlichen Tonkomplex - ein Prozess, der sich am Ende des Stückes auch im Bereich der Großform durch ein Zusammenfalten der Musik in den Anfangston d' bemerkbar macht.
III.
Mit dieser formalen Strategie sind mehrere Abläufe verbunden, die sich in höchst unterschiedlicher Weise auf Harmonik und Klanggestalt der Komposition auswirken. Zunächst ist zu beobachten, dass sich die drei Ensembleformation allmählich verselbstständigen und dabei jeweils alternierend klanglich hervortreten. Alle Abbrüche und Einschnitte ins formale Gefüge markieren hier perspektivische Veränderungen, mit denen jeweils eine andere Deformation des Tonraums mitsamt ihrer spezifischen Obertonverhältnisse in den Vordergrund tritt. Solche ständigen Wechsel der Perspektive, die sich in Form einer pulsierenden Bewegung sowohl räumlich zwischen den einzelnen Instrumentalgruppen als auch kompositorisch zwischen dem klanglichen Vordergrundgeschehen und dem ständig präsenten Initialklang abspielen, verändert auf subtile Art die wahrnehmbaren Oberflächenstrukturen der Musik und setzt den Hörer einem gewissen "trompe d'oreille"-Effekt aus. Er geht mit einer unterschiedlich starken Verschleierung der Harmonik durch verschieden komplexe Tonraum-Auffüllungen einher.
Während etwa der beschriebene Entfaltungsprozess zu Beginn trotz geräuschhafter Einfärbungen auf weitgehend chromatischen Tonfortschreitungen beruht, basieren andere Passagen auf einer Viertelton-Chromatik (etwa T. 115ff.), auf reinen Glissando-Bewegungen (T. 58ff.) oder gar auf der Überlagerung von Geräuschaktionen und Glissandi (T. 131ff.). Insbesondere beim Einsatz von Geräuschen zeigt sich die Komponistin äußerst einfallsreich: Das Vorwort zur Partitur gibt detailliert an, wie der Klang der Instrumente durch Anwendung spezifischer Spieltechniken verändert werden soll und führt zu diesem Zweck etwa im Bereich der Holz- und Blechbläser eine Fülle von Notations-Symbolen für Aktionen wie Slaps, Zahntöne, Jet-whistles, Klangfarbentriller und Obertonglissandi an. Die präzise Platzierung solcher Angaben in der Partitur zeugt von der Gewissenhaftigkeit, mit der Olga Neuwirth diese und andere Möglichkeiten der Klangerzeugung einsetzt, um ganz bestimmte musikalische Effekte zu erzielen und den herkömmlichen Instrumentalklang quasi von innen heraus aufzubrechen.
Die einzelnen Elemente der genannten Stufenfolge - von der chromatischen Tonhöhe bis hin zum überwiegenden Geräusch reichend und daher aufgrund ihrer Beschaffenheit mit zunehmender Substitution der Obertonspektren durch Geräuschanteile verbunden - kommen allerdings niemals vollständig isoliert vor, sondern werden immer auf unterschiedliche und höchst abwechslungsreiche Art miteinander vermischt. Dabei spielen die Strukturen des musikalischen Satzes sowie die Wechselverhältnisse zwischen seinen einzelnen Bausteinen eine große Rolle. Durch sie sorgt Olga Neuwirth für eine Feinmodellierung der musikalischen Vorgänge: indem sie ihre differenziert ausgearbeiteten Klangelaborate zwischen den Polen von kompakter Verdichtung und lockerem, auseinander driftendem Gefüge anordnet, hat sie ein weiteres Mittel zur Hand, mit dem sie die wechselnden Perspektiven von "Hooloomooloo" beeinflussen kann. In einer der extremsten Passagen des Stückes stehen sich beide Klangsituationen fast unversöhnlich gegenüber: In T. 128 beginnt ein aus mehreren Rhythmen zusammengesetzter, unisonoartig wirkender Block im Fortissimo, der den zentralen Klang cis-d-es in aller Schärfe in den Raum stellt; nach mehrmaliger decrescendierender Repetition macht er jedoch einer Mischung aus gruppenweise alternierenden Geräuschen und Glissandi in dreifachem Piano Platz (T. 131ff.), in der die harmonischen Bezugspunkte so gut wie aufgelöst sind. Dieser Gegensatz zwischen unnachgiebiger Härte und flirrender Luftigkeit wird ab T. 143 nochmals aufgegriffen, wobei sich die beiden Pole nun aber in permanenter Gleichzeitigkeit gegenseitig mildernd durchdringen und schließlich jene Auflösung des musikalischen Satzes nach sich ziehen, die das Stück wieder in sein initiales Klangereignis d' zurück führt.
Die hier in aller Kürze beschriebenen Strategien sind - in jeweils unterschiedlicher Ausprägung - auch in Olga Neuwirths übrigen Werken präsent und bilden eine grundlegende Konstante ihres eigenwilligen Personalstils. So hat sich die Komponisten etwa ein charakteristisches Repertoire an Präparationen und Verfremdungen des Instrumentalklangs erarbeitet, das sie systematisch zur Schaffung eines präszisen Geräuschklang-Vokabulars einsetzt.[4] Dass dieses auch unabhängig von Tonraum-Deformationen eingesetzt wird, belegen Stücke wie die beiden Streichquartette "Akroate Hadal" (1995) und "settori" (1999), die durch einen weitgehenden Verzicht auf Skordaturen gekennzeichnet sind. Solchen Konzeptionen stehen andere Werke wie "Clinamen/Nodus" für Streichorchester, Schlagzeug und Celesta (1999) gegenüber, in denen die komplexen Stimmungen der Zithern eine deutliche Tonraumveränderung signalisiert, während die vierteltönige Verstimmung der Violingruppen untereinander eine Wechselwirkung unterschiedlicher Tonräume in die Musik einführt.
© 2001 by Stefan Drees; Abdruck - auch in Auszügen - nur nach Rücksprache mit dem Autor.
[1] Ohne Fußnoten erschienen in: Positionen Nr. 48, August 2001, S. 31-33. [Zurück]
[2] Angaben nach dem Vorwort zur Partitur RICORDI Sy. 3342. [Zurück]
[3] Ein e-bow (electronic/electromagnetic bow) ist eine Art Tonabnehmer, der durch elektromagnetische Einwirkung auf Saiten Sinustöne erzeugen kann. In der Partitur heißt es zu Takt 1: "e-bow einschalten; auf die d1-Saite im Resonanzkasten setzen; Ped. drücken und warten bis die Saite zu schwingen beginnt". [Zurück]
[4] Ein besonders anschauliches Beispiel für vorgeschriebene Spieltechniken und milimetergenaue Präparationen von Streichinstrumenten bietet das Vorwort zur Partitur des Ensemblestücks "Vampyrotheone" (Ricordi Sy. 3305); vgl. dazu auch Stefan Drees, Die Komponistin Olga Neuwirth, in: Olga Neuwirth, hrsg. von Stefan Drees, Saarbrücken: Pfau 1999, S. 10. [Zurück]