Über die Arbeit des Archivio Luigi Nono [1]
von Stefan Drees
Unter
allen Institutionen, die sich in Venedig der Pflege musikalischer
Denkmäler widmen, ist das Archivio
Luigi Nono wohl die jüngste. Seit Juni 1993 befindet es sich im
Palazzo Foscari, einem Haus aus dem 16. Jahrhundert, das am Canale
della Giudecca unmittelbar gegenüber von Luigi Nonos Geburtshaus
liegt. Die anspruchsvolle Aufgabe, die sich das Archiv gestellt hat,
besteht darin, den gesamten Nachlaß des Komponisten
zusammenzubringen und zu dokumentieren: Manuskripte der
Kompositionen, Skizzen und vorbereitende Studien, Tonbänder der
elektronischen Kompositionen von ihren einzelnen Entstehungsphasen
bis hin zur endgültigen Fassung, Korrespondenz, Fotos über Leben
und Werk, Konzertprogramme, Presseberichte, kritische Schriften,
Nonos Musik- und Notenbibliothek mit rund 10.000 Bänden, die
teilweise mit handschriftlichen Randbemerkungen versehen sind,
Interviews mit Musikern, die mit Nono zusammengearbeitet haben: An
alldem wird seit knapp zwei Jahren mit großer Anstrengung
gearbeitet. Der folgende Bericht - die mit Annotationen versehene
Wiedergabe eines Gesprächs, das der Autor am 30. Juli 1995 mit Nuria
Schoenberg Nono in Venedig geführt hat - versteht sich als erste
Würdigung der bisher geleisteten Arbeit. [2]
Wie ist die Idee entstanden, den Nachlaß Nonos in einem eigenen Archiv zu sammeln?
Gleich nach dem Tod von Gigi mußten wir die Wohnung verlassen, in der er während der letzten Jahre gelebt hat. Bevor wir seine ganzen Sachen in Kisten und Schachteln gepackt haben, haben wir die Bücher alle auf dem Computer registriert und auch seine übrigen Papiere und Sachen so gut wie möglich geordnet, um zu wissen, was wir haben. Danach wurde das alles zwei Jahre lang aufgehoben - teils zuhause, aber ein grosser Teil davon freundlicherweise in der Fondazione Cini. Im Jahr 1992 habe ich die zwei wunderschönen Räume auf der Giudecca gefunden und beschlossen, das gesamte Material dort in einem Archiv aufzubewahren. Wir hatten vorher natürlich auch Anfragen von anderen Institutionen, die sich für den Nachlaß interessiert haben. Aber in Venedig haben alle Freunde und Musiker mir geraten, die Sachen nicht wegzugeben. Also haben wir - Serena, Silvia und ich - uns dazu entschlossen, sie in einer privaten Form hier zu behalten.
Schaut man sich den enormen Umfang dieses Nachlasses an, kann man nur feststellen, daß den Mitarbeitern viel Arbeit bevorsteht: Sämtliche Skizzen und Manuskripte sollen farbig kopiert, die Bücher richtig geordnet, Briefe sortiert, Programmhefte, Rezensionen und Presseberichte gesammelt und zugänglich gemacht werden und so weiter. Wann soll diese Arbeit abgeschlossen sein?
Zuerst dachten wir, es dauert drei Jahre. Aber wie alles in der Welt ist es schließlich eine Geldfrage. Wir haben bisher wenig Geld bekommen für unsere Projekte, und man kann nicht alles von freiwilligen Hilfskräften leisten lassen, obwohl die Leute, die umsonst und mit großem persönlichen Enthusiasmus an die Dinge herangehen, vielleicht sogar besser arbeiten als Angestellte dies tun würden. Ich glaube, die Bibliothek könnte man leicht in sechs Monaten ordnen. Aber es dauert sehr lang, die Kopien von den Manuskripten zu machen, und wir wollen gerade das nicht überhasten, weil wir es sehr genau machen möchten. Wir wollen die Originale in der Bank lassen und sie nicht mehr herausnehmen müssen, und das heißt, daß jede Kopie sehr gut kontrolliert werden muß, ob alles drauf ist, was auf dem Original ist - manchmal ist es sogar mehr, weil die Farben der Originale verblassen. Wir gehen von der Idee aus, daß wir die Werke von Nono studieren wollen, damit sie nicht nur wissenschaftlich besser bekannt sein können, sondern damit man auch bessere Aufführungen haben kann ... denn das Wichtigste bei der Musik ist ja die Aufführung, die Werke zu hören.
Die gelungene Aufführung der «Composizione per orchestra n. 2 - Diario polacco '58» im Rahmen der Weltmusiktage 1995 wurde vom Archivio Nono betreut. Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?
Wir hatten gehört, daß der «Diario polacco '58» in Essen aufgeführt werden sollte, vom WDR unter Zoltán Peskó, und ich hab gefragt: Wo bekommt ihr das Tonband her? Da haben alle gemeint: Was für ein Tonband? Und da hab ich gesagt: Ich erinnere mich ganz genau, daß Gigi bei der nächsten Aufführung nach der Uraufführung ein Tonband dazugegeben hat, und daß er, nachdem er diese Aufführung gehört hatte, gesagt hat: Ja, so soll es sein, jetzt ist das Werk wirklich fertig. Aber es wußte niemand etwas davon. Der Verlag Schott hatte auch mit dem Orchestermaterial kein Tonband geliefert. Zum Glück hatten wir aber im Archiv eine Aufnahme von einer Aufführung mit diesem Tonband, und wir fanden dann auch das Originaltonband, das für diese benutzt wurde. Dazu muß man wissen, daß uns Alvise Vidolin beim Umzug Nonos gesamte Tonbänder auf DAT überspielt hat. Und da gibt es nicht nur Aufnahmen der fertigen Werke, sondern auch Arbeitsfassungen der elektronischen Kompositionen, beispielsweise auch die Bänder, auf denen Pollini das Material eingespielt hat, das dann in "...sofferte onde serene..." im Tonband verarbeitet wurde. Als es klar war, daß das Band zum «Diario polacco '58» existierte in unserem Besitz ist, haben unsere Mitarbeiter Veniero Rizzardi und Stefano Bassanese das Band restauriert, gereinigt, das weitere Material gesucht, das zu dieser Aufführung gehört, etwa die //47// überarbeitete Partitur, in der viele Änderungen vorgenommen wurden, besonders Pausen und Tempi. So wurde also durch die Arbeit des Archivio Nono eine neue Aufführungspartitur hergestellt, in der die elektronischen Einspielungen notiert sind und auch die Veränderungen, die in dieser letzten Version vorgenommen wurden. Wir hoffen natürlich, daß Schott jetzt eine neue Partitur davon machen wird. Solche Ergebnisse sind für uns sehr wichtig. [3]
Dieses Projekt zeigt, wie enorm wichtig es ist, die Werke aufzuarbeiten, deren Aufführbarkeit bisher daran scheiterte, daß Nono die endgültige Fassung nie richtig fixiert hat, was ja beispielsweise auch auf «A floresta e jovem é cheia de vida» zutrifft. Ich erinnere mich, daß das Stück vor zwei Jahren im Rahmen des Festivals "Zeitfluss 93" unter grösseren Schwierigkeiten realisiert wurde.
Richtig. Zu «A floresta» gab es keine gedruckte Partitur, das Stück war zu Lebzeiten Nonos nur durch ihn und eine gewisse Gruppe von Musikern und Schauspielern aufgeführt worden. Jeder von ihnen hatte eine eigene Stimme, die aber sehr eigenartig geschrieben war, basierend auf dem gegenseitigen Verständnis zwischen den Mitwirkenden. Es gab dann so eine Übersichtspartitur für die Elektronik, nach der man aber keine Aufführung machen konnte. Es wurde aber dennoch probiert. Und zwar hat der Ricordi-Verlag jemanden damit beauftragt, hauptsächlich mit Hilfe der Stimmen und der beiden Schallplattenaufnahmen der Komposition eine Partitur zu schreiben und das Aufführungsmaterial herzustellen. Zuerst wurde diese Fassung 1992 in Stuttgart aufgeführt, von einer Gruppe junger Leute von der Musikhochschule, zusammen mit Marino Zuccheri, dem Tontechniker, mit dem Nono im Mailänder Studio di Fonolgia zusammengearbeitet hat. Diese Aufführung, eine engagierte Studiensache im Rahmen der Hochschule, hat man akzeptiert, wie sie war. Dann aber hat Ricordi das Werk in Salzburg vom Klangforum Wien aufführen lassen, und das war eine wirklich sehr negative Erfahrung. Erstens waren die Metallplatten für die Schlagzeuger nicht dort: Das Klangforum dachte, man könnte Instrumente, die so klingen wie die Platten, benützen. Der Ricordi-Verlag hat in dieser Sache ganz versagt und ihnen die Platten nicht geschickt und ihnen auch nicht die richtigen Abmessungen mitgeteilt, damit sie sich selbst darum kümmern können. Erst kurz vor der Aufführung haben sie - durch den energischen Eingriff von Markus Hinterhäuser vom "Zeitfluß-Festival" - am letzten Tag noch diese Platten bekommen. Aber nicht nur das: Es hat sich herausgestellt, daß die neue Partitur nicht richtig war. Es gab Fehler in der Synchronisation zwischen dem Band und den Ausführenden, und so haben wir im Archiv beschlossen, daß man alles ganz neu studieren muß mit Hilfe des Skizzenmaterials und der Arbeitsbänder Nonos. Dazu gibt es jetzt ein gemeinsames Projekt mit Ricordi, das zur Veröffentlichung einer endgültigen Partitur und Stimmen für die Solisten führen soll.
Das Problem besteht ja auch darin, daß Nono viele Sachen nicht endgültig oder erst im Lauf der Arbeit fixiert hat. Um seinen Intentionen möglichst gerecht zu werden, ist man hier auf mündliche Informationen jener Leute angewiesen, die mit ihm zusammengearbeitet haben.
Selbstverständlich. Ein Beispiel dazu: Inzwischen haben wir ein langes Interview mit dem Klarinettisten William O. Smith, gemacht, der mit Gigi bereits am Anfang der Konzeption von «A floresta» zusammengearbeitet hat. Er hat sich im vergangenen Jahr die Klarinettenstimme angeschaut und konnte dort auch noch viele Änderungen und Korrekturen machen. Und er hat uns darüber berichtet, wie sie gearbeitet haben, wie genau alles festgelegt wurde. Und das ist sehr interessant. Denn die Leute, die in den letzten Jahren mit Nono gearbeitet haben, sprechen immer viel von Improvisation, als ob er sie sehr frei gelassen hätte in den Aufführungen. Ich glaube, daß dies so nicht wahr ist, auch nicht bei den letzten Werken. Ich glaube, er hat in den Proben viel Freiheit gelassen und dann immer fixiert und ausgesucht: das möchte ich, auch während der Aufführung. Und ich bin ganz sicher, daß das immer gleich war bei ihm, das war sein Charakter. Die Freiheiten waren letztendlich sehr genau festgelegt. Das sieht man auch in einem Film über «A floresta», in dem Nono über seine Arbeit spricht. [4] Da sagt er: "Also in der Vorarbeit, da improvisieren wir sehr viel, aber dann lege ich alles fest und schreibe es in die Partitur, und es muß genauso sein." Und das finde ich sehr wichtig, weil der Vorwand der Freiheit eine wunderbare Ausrede ist, um schlechte Aufführungen zu machen und zu spielen, was man will...
Das beste Beispiel für ein Stück, das im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar ist, ist ja die 1987 in Paris uraufgeführte Komposition «Decouvir la subversion», zu der es nicht genug Material gibt, um eine Partitur davon anzufertigen. [5]
Genau, aber das war natürlich auch eine Frage der Zeit, weil das Stück nur einmal aufgeführt wurde und danach keine Möglichkeit mehr bestand, es nochmal zu machen, um dann auch den Notentext festzulegen... Zum Glück haben wir das Komitee für die Herausgabe der Werke Luigi Nonos beim Verlag Ricordi, indem solche Dinge ausführlich besprochen werden: Es sind alles Leute, mit denen Gigi zusammengearbeitet hat. Aber natürlich gibt es da auch verschiedene Meinungen. Man muß einerseits die persönlichen Ideen dieser Leute respektieren, aber dann auch die Skizzen und anderes berücksichtigen, was wir mit unserer Arbeit im Archiv herausfinden können, etwa durch Briefe oder persönliche Berichte. So müssen wir zu einer richtigen Schlußfolgerung kommen, und ich glaube, darauf kommt es an.
Im Archiv soll natürlich auch musikwissenschaftliche Forschung betrieben werden können. Es kommen offenbar viele Anfragen von Leuten, die gern das Material einsehen wollen.
Das Archiv steht im Prinzip jedem offen, der sein Wissen über das Werk Nonos vertiefen möchte. Nach Vereinbarung besteht die Möglichkeit, die von uns verwahrten Reproduktionen - also Fotokopien, Fotografien, Ton- und Videoaufnahmen - zu konsultieren. Es kommen erfreulicherweise immer wieder Privatleute vorbei, die sich mit Nonos Musik näher bekannt machen wollen, //48// was uns sehr freut und natürlich sehr wichtig ist. Studierende, die ein Forschungsthema bearbeiten wollen und sich daher meist für ein bestimmtes Werk interessieren, werden gebeten, uns eine kurze Beschreibung ihres Projekts mit Angabe der vorgesehenen Arbeitszeit und einen Lebenslauf einzureichen. Wir haben jetzt ein sogenanntes Comitato scientifico, das sich zweimal im Jahr trifft und die Vorschläge bewertet, die angekommen sind. Unser Problem ist, daß es im Augenblick zu viele Anfragen gibt, wir aber zuerst einen großen Teil des Manuskriptmaterials kopieren wollen, bevor wir neue Leute zum Studium zulassen, die dann mit den Kopien arbeiten können. Die Manuskripte sind zwar meist in sehr gutem Zustand, aber oft hat Nono Filzstifte benutzt, deren Farben bereits jetzt zu verblassen beginnen. So müssen wir alle Sachen möglichst rasch kopieren, damit diese Daten nicht verlorengehen. Wahrscheinlich werden wir uns in den nächsten zwei Jahren speziell darauf konzentrieren. Natürlich möchten wir dann diese Kopien zum Einsehen zur Verfügung stellen... Schließlich halte ich es für besonders wichtig, wenn ausübende Musiker kommen und anhand des Materials studieren, wie die Musik zu Nonos Lebenszeit aufgeführt wurde, wie die Werke komponiert und aufgebaut sind. Denn das führt alles zu besseren Aufführungen...
© 2000 by Stefan Drees; Abdruck - auch auszugsweise - nur in Rücksprache mit dem Autor
[1] Abgedruckt in: MusikTexte 61, Oktober 1995, S. 46-48. Um die Zitierfähigkeit des Textes zu gewährleisten, wurde der jeweilige Beginn einer neuen Druckseite durch die entsprechende Ziffer zwischen schräggestellten Strichen angegeben. [Zurück]
[2] Über Projekte und Aufgaben des Archivs unterrichtet ausführlich die bei Ricordi erschienene Broschüre "Archivio Luigi Nono". [Zurück]
[3] In der Tat ist ein Vergleich der beiden Fassungen des «Diario polacco '58» sehr aufschlußreich (vergleiche dazu Stefano Bassanese und Veniero Rizzardi: Zur Realisierung der «Composizione per orchestra n. 2 - Diario polacco '58», in: Musik der Zeit. Weltmusiktage 95. Klangkörper. Spaces. Programmheft, hrsg. vom Westdeutschen Rundfunk, Köln 1995, S. 31-33). Nonos einschneidende Eingriffe in den Notentext - eine Änderung der Metronomangaben zugunsten der häufigen Verlangsamung des Tempos und die Unterbrechung des musikalischen Verlaufs durch Einfügung von insgesamt 38 Fermaten - zersplittern das ohnehin schon aus kontrastreichen Fragmenten aufgebaute Werk noch weiter. Der wesentliche Unterschied zwischen der Urfassung und der überarbeiteten Version von 1965 besteht allerdings in der nachträglichen Hinzufügung eines Tonbands. Dieses enthält 13 teils äußerst kurze musikalische Episoden, die fast alle einem Rundfunkmitschnitt der Komposition von 1959 entstammen und zum Teil nachbearbeitet wurden. Einzig die vorletzte und mit über einer Minute Dauer längste Episode basiert auf Materialien, die Nono Mitte der 60er Jahre im elektronischen Studio für seine Bühnenmusik zu «Die Ermittlung» von Peter Weiss erarbeitete, und die auch die Grundlage für sein Tonbandstück «Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz» (1966) bilden. Diese Auseinandersetzung mit dem Schrecken von Auschwitz ist der rote Faden, der alle drei Kompositionen inhaltlich miteinander verbindet. Alle kurzen, auf dem Rundfunkmitschnitt basierenden Tonbandeinspielungen erklingen kurz vor oder nach den live gespielten Originalpassagen. Die Lautsprecheraufstellung bei der Essener Aufführung wurde so gewählt, daß diese Fragmente, von der Bühne aus in den Zuschauerraum projiziert, sich nicht aus dem Orchesterklang herauslösten, sondern als dessen klangliche Erweiterung wahrgenommen werden konnten. Einzig die lange Auschwitz-Passage durchbricht bewußt diese Haltung und emanzipiert sich klanglich vom Orchester, was die Klangregie durch eine räumliche Bewegung der Einspielung unterstützte. [Zurück]
[4] Es handelt sich dabei um einen 1968 im Auftrag des WDR Köln produzierten Film mit dem Titel «Der Wald ist jung und voller Leben... Die Entstehung einer Komposition von Luigi Nono», der über die Entstehung von «A floresta» und die in diesem Zusammenhang durchgeführten Stimmexperimente mit den Schauspielern des "Living Theatre" sowie die Entstehung der Tonbänder unterrichtet. [Zurück]
[5] Zu diesem Problem vgl. insbesondere: Über «Découvrir la subversion: hommage à Edmond Jabès» und «Post-Prae-Ludium n. 3 BAAB-ARR». Aufsätze von Jürg Stenzl und Hans Peter Haller mit einer Erklärung des Herausgeberkomitees der Luigi Nono-Werkausgabe. Ricordi: Milano 1993. [Zurück]